Paul Watzlawick sagt „Man kann nicht nicht kommunizieren“. Aber kann man auch nicht nicht lesen? Und was soll das mit diesen doppelten Verneinungen? Ich werde später darauf zurück kommen. Lasst mich zunächst mit einer kleinen persönlichen Geschichte beginnen. Ich hasse SUVs. Leidenschaftlich. Vor ein paar Monaten standen zwei dieser Monster regelmäßig in unserer Straße. Und zwar so, dass sie nicht nur einen Teil des Bürgersteigs in Beschlag nahmen, sondern es mit ihrer Überbreite auch schafften, den Autoverkehr zu behindern. Darüber kann man sich nur aufregen.
Jetzt bin ich nicht nur ein SUV-Hasser, sondern auch einer, der KFZ-Kennzeichen liest. Oder um es anders auszudrücken: Ich kann KFZ-Kennzeichen nicht nicht lesen. Ich sehe und lese sie. Oder noch einmal anders formuliert: Ich sehe sie und interpretiere sie. Und diese Geländewagen hatten Wiesbadener Kennzeichen.
Eigentlich war es mir egal, woher die Autos kamen. Zuhause dachte ich nicht über sie nach. Doch jedesmal, wenn ich mich entweder als Fußgänger oder in meinem Auto an ihnen vorbei quetschen musste, war meine Aufmerksamkeit zu 100 Prozent bei ihnen. Dann waren es diese verdammten Autos aus Wiesbaden. Meine Wut und diese Tatsache verbanden sich in meinem Gehirn.
Zurück zur Frage, ob es möglich ist, nicht zu lesen. Wie schon einmal beschrieben, lesen wir Menschen Wörter nicht Buchstabe für Buchstabe, sondern nehmen sie visuell als Ganzes wahr und interpretieren ihre Bedeutung, ohne weiter darüber nachdenken zu müssen. Nur wenn uns Wörter unbekannt, kompliziert oder wir überfordert sind, fällt uns diese Aufgabe schwerer. Unser Gehirn ist so gut darin, dass wir sogar völlig falsch geschriebene Wörter richtig interpretieren.
Muster und Ordnung
Außerdem suchen wir Menschen gerne nach Mustern, Rastern und Ordnung. Wir versuchen Gruppen zu bilden, Unnötiges auszublenden und die Welt um uns möglichst zu vereinfachen. Und das nur aus einem einzigen Grund: Um Energie zu sparen. Unser Gehirn ist eine Hochleistungsmaschine und jeder Trick, um ihm Arbeit abzunehmen, ist willkommen. Deshalb ist auch aus UX-Sicht vorteilhaft, entsprechende Gruppen zu bilden, das Gesetz der Nähe zu beachten und beispielsweise Chunking anzuwenden, also das gezielte Bündeln von Informationen in geeignete Häppchen. Eine IBAN liest sich deutlich besser, wenn man sie in Viererblöcke aufteilt. Statt DE349812090002312167 fällt DE34 9812 0900 0231 2167 deutlich leichter.
Dieser Drang, Muster zu entdecken und Ordnung ins Chaos zu bringen, führt bei mir dazu, dass ich Nummernschilder lese. Ich versuche Wörter zu erkennen und freue mich jedesmal wenn ein Wagen aus Neuss mit dem Kennzeichen NE-TT herum fährt, jemand mit einem Kleinwagen aus Monschau das Kennzeichen MON-EY hat oder jemand aus Pirmasens so witzig ist, sich die Zeichenfolge PIR-AT zuzulegen. Ich kann nicht anders. Ich sehe Buchstaben und ich versuche Wörter zu erkennen, ich versuche sie visuell einzuordnen, ich kann nicht nicht lesen.
Überall lese ich Wiesbaden
Doch dann geschah es. Plötzlich sah ich überall Kennzeichen aus Wiesbaden. Täglich. An so vielen Automobilen in der Stadt. Zunächst hielt ich es für Zufall. Dann zwang ich mich dazu, ganz bewusst derartige Kennzeichen zu suchen, um die Zufälle zu verifizieren. Erfolglos. Ich entdeckte sie stets nur, wenn ich unvorbereitet war und nicht mit ihnen rechnete. Und ich entdeckte eine Menge. So viele, dass ich sogar im Internet nach Hinweisen suchte, ob Wiesbaden vielleicht eine Partnerstadt von Aachen sei oder es eventuell eine Art Austauschprogramm gäbe. Warum zog es so viele Menschen aus Wiesbaden hierher? Natürlich machte ich auch die Gegenprobe. Jedesmal, wenn mir ein weiteres Wiesbaden-Kennzeichen auffiel, versuchte ich bewusst andere Städte zu entdecken. Doch nicht einmal die Nachbargemeinden schienen so leidenschaftlich gerne in Aachen herum zu fahren wie Wiesbaden.
Ich war Opfer der selektiven Wahrnehmung geworden. Ich nahm alle Informationen um mich herum wahr, mein Gehirn reagierte aber nur auf diesen bestimmten Reiz, schuf damit eine eigene Variante der Realität. Denn natürlich fallen nicht mit einem Mal die Wiesbadener in Aachen ein. Mein Gehirn schubst die Information, ein Wiesbadener Kennzeichen entdeckt zu haben, einfach in mein Bewusstsein, während es das bei allen anderen Kennzeichen nicht tut. Und mit einem Mal ist Wiesbaden überall.
Selektive Wahrnehmung ist ein vielfältiges Phänomen und vermutlich kennt jeder diesen „Filter“, der dazu führt, dass man nur noch bestimmte Dinge sieht, hört oder denkt. Dabei spielen bestimmte Faktoren eine Rolle, wie Bedürfnisse, Einstellungen und Interessen. Aber auch Selbsterfüllende Prophezeiungen oder bestimmte Kenntnisse zählen dazu. So sehe ich als UX Professional automatisch überall Probleme in Bedienung und Aussehen technischer Geräte und Oberflächen. Sie scheinen mir stets mit einer roten Linie unterstrichen wie das falsch getippte Wort in einem Textverarbeitungsprogramm. Frischverliebte, deren neuer Schwarm ein rotes Auto fährt, sehen nur noch rote Autos. Mit unbändiger Lust auf italienisches Essen nimmt man nur noch Pizzerien und keine Obststände mehr wahr. Selektive Wahrnehmung beeinflusst Menschen und wird daher beispielsweise gerne in der Werbung genutzt.
Selektive Wahrnehmung, Tunnelblick und UX
Und die selektive Wahrnehmung ist natürlich auch im Bereich UX von großer Bedeutung, wie Jakob Nielsen beispielsweise schon 2012 in diesem Artikel beschrieb. Menschen neigen zu einem Tunnelblick, sie suchen wie schon erwähnt nach Mustern, sie scannen nach der gesuchten Information, sie können in den meisten Fällen gar nicht alles wahrnehmen, was auf einem Bildschirm passiert. Das Stichwort Banner-Blindheit beschreibt den Umstand, dass Menschen früher oder später Werbebanner nicht mehr wahrnehmen, die um einen Text herum blinken und nach Aufmerksamkeit schreien. Sie müssen diese Banner auch ausblenden oder sie würden wahnsinnig. Gleichzeitig führt eine Reizüberflutung auch dazu, dass die wichtigste Information gar nicht erst wahrgenommen wird. Schuld hat dabei nicht der Anwender. Er sieht in bestimmten Fällen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Gewiss ein Erlebnis, das einige meiner Leser aus eigener Erfahrung kennen.
Deshalb ist es als UX Designer von größter Bedeutung, die selektive Wahrnehmung oder den Tunnelblick in die Lösung mit einzubeziehen. Unnötige Informationen entfernen. Nur die relevanten Informationen und Aktionen zur Verfügung stellen. Zusammengehörende Informationen gruppieren. Wichtige Informationen betonen. Mit Abständen arbeiten, um Gruppen besser hervorzuheben. Mit unterschiedlichen Schriftgrößen und -stärken eine Hierarchie erstellen und den Scan- bzw. Lesefluss des Anwenders steuern. Es ist wie immer die Aufgabe des UX-Designers, dem Anwender das Leben zu erleichtern. Und es gibt einige Hilfsmittel dafür.
Könnte nun bitte jemand diese ganzen verdammten SUVs entfernen? Das würde auch mein Leben und das vieler anderer Menschen ebenfalls erleichtern.
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