Häusliche Gewalt ist etwas schreckliches. Wenn in einer Beziehung Menschen geprügelt, gedemütigt und unter Druck gesetzt werden, kann es kaum noch schlimmer kommen. Denn die Gewalt geht ja von einem Menschen aus, den man (eigentlich) liebt und dem man vertraut. Meist werden Frauen von ihren Männern verprügelt (es gibt auch einige Beispiele, in denen Männer zu Opfern werden). In jedem Fall scheint der Kreisel dieser Gewalt keinen Ausweg zu haben.
Betroffene lassen sich diese Behandlung über Jahre gefallen, suchen keine Hilfe, finden Ausreden, um ihre blauen Flecken zu erklären und nehmen die Täter gar noch in Schutz. Sie beginnen zu lügen, erklären, der Täter stünde doch so unter Druck und er könne ja nichts dafür. Manchmal geht der psychologische Druck so weit, dass die Betroffenen die Schuld bei sich selbst sehen und sich einbilden, die Schläge verdient zu haben.
In Film, Fernsehen, Büchern und auch wissenschaftlichen Berichten und Reportagen wird dieses Thema immer wieder gezeigt und jedes mal ist es für einen Außenstehenden einfach unerklärlich, weshalb die Opfer nicht fliehen und Hilfe holen. Ein Außenstehender versteht nichts. So ist es auch nicht leicht in der Grauzone eine richtige Entscheidung zu treffen, wenn man plötzlich sehr nah an dieser Gewalt ist. Wenn man Schreie und Weinen aus der Nachbarwohnung hört, stellt sich einem sofort die Frage, ab wann man eingreifen sollte. Ist es nur ein kleiner Streit? Oder wird gerade jemand misshandelt? Darf man sich einmischen? Wo fängt Zivilcourage an und wo hört Privatsphäre auf?
Weshalb ich diese Fragen stelle? Weil ich gestern Abend Besuch von meinem Nachbarn hatte, der mir drohte, die Polizei zu rufen.
Ich saß mit der damalige Freundinn vor dem Fernseher und sah mir den Film „Oliver Twist“ an. Es war gegen halb elf, frische Luft wehte durch die offene Balkontür herein und Oliver Twist geriet gerade in höchste Gefahr, bei der die Freundin, die ihn retten wollte, ums Leben kam. Schreie, weinen, Drama.
In diesem Moment klingelte es an der Tür. Ich öffnete sehr überrascht und der junge Nachbar drohte, er würde die Polizei rufen, wenn die Krawalle in meiner Wohnung nicht aufhören würden. Während er mir das sagte, versuchte er an mir vorbei einen Blick in die (verdächtig ruhige) Wohnung zu erhaschen. Der Film war natürlich auf Pause und meine Freundin lag noch immer auf dem Sofa und lauschte dem Gespräch an der Tür.
Ich fragte, was er damit meinte und er antwortete, er habe Schreie und Weinen aus meiner Wohnung gehört. Ich erklärte ihm, dass ich nichts dergleichen gehört hätte, außer den Geräuschen aus meinem Fernseher. Er glaubte mir offensichtlich nicht, was mich mittlerweile etwas nervte. Ich fragte, wie er denn auf die Idee käme, dass die Geräusche ausgerechnet von hier kämen. Darauf wusste er keine Antwort. Ich wiederholte, dass wir nur einen Film schauen würden und ich auch nicht glaubte, dass die Lautstärke so laut sein könne, dass es in der Wohnung rechts unter uns noch zu hören war. Außerdem sollten TV-Geräusche ja von einem echten Streit unterschieden werden können. (Wenn ich schreie, ertönt dazu keine dramatische Musik. Ich schreie auch selten über Themen des 18.Jahrhunderts. Und es schreit auch nicht halb London mit mir)
Mittlerweile sehr genervt über seine unausgesprochenen Anschuldigungen und die nächtliche Störung wünschte ich ihm eine gute Nacht und ließ ihn im Hausflur zurück.
Rückblickend betrachtet muss ich natürlich gestehen, dass alles sehr verdächtig erscheinen muss. Nächtliche Schreie. Ein wütender Kerl an der Tür, der keine Auskunft geben will und patzig wird. Eine ab diesem Moment viel ruhigere Nachbarswohnung (wir drehten den Ton leiser). Ein potentielles Opfer, das nicht in Erscheinung tritt und den Irrtum aufklärt (vermutlich dachte der Nachbar meine Freundin würde schon blutend und bewusstlos in der Küche liegen). Und sollte der Nachbar meine Freundin irgendwann einmal beim Brötchen holen sehen und sie darauf ansprechen, wird sie natürlich wie alle Betroffenen aussagen, dass sich alles nur um einen Irrtum handelt.
Wie gesagt, sehr verdächtig das Ganze. Ich muss nun mit dem Makel leben, dass ich für meine Mitmenschen ein Kerl bin, der Frauen verprügelt. Ich kann ja nicht das Gegenteil beweisen. Ein Gerücht genügt hier schon. Und ich wette, dass alle in unserem Haus und im Supermarkt nebenan bereits Bescheid wissen und mich ab sofort mit ganz anderen Augen sehen.
„Psst, da kommt der Kerl, der regelmäßig seine Freundin verprügelt. Unglaublich, das würde man dem gar nicht ansehen. Aber das sieht man diesen Schweinen ja nie an. Und dabei ist sie so eine Liebe. Ich kann gar nicht verstehen, dass sie immer noch mit diesem Kerl zusammen ist…“
Außenstehende verstehen es nie.
Nachtrag: Die Vormieter eben jenes Nachbarn haben sich regelmäßig gegenseitig verprügelt und mir damit schlaflose Nächste bereitet. Mehr als einmal klingelte auch ich und drohte mit der Polizei. Jedesmal war sofort Ruhe und am nächsten Morgen traf ich die zwei wie frisch verliebt beim Einkaufen oder Post holen. Ich war Außenstehender und verstand nichts. Mittlerweile weiß ich, dass sie Drogenabhängig waren und auf ihren Trips wohl mehr als ausgetickt sind. Deshalb und weil sie durch zu hohe Schulden ihre Miete nicht mehr zahlen konnten, wurde ihre Wohnung zwangsgeräumt. Manchmal bekommt man zum Glück doch noch eine Erklärung.
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