Eine Nahaufnahme eines Maßbandes auf weißem Hintergrund mit klarem UX-Design.

Alles eine Frage der Skala

Noch vor wenigen Jahren besaß ich einen AV-Receiver (quasi ein Musik-Verstärker mit zusätzlicher Videoausgabe) mit zugehörigem 5.1 Lautsprecher Set und gut versteckter Verkabelung im Wohnzimmer. So ein mächtiger, schwarzer Kasten, der wahnsinnig viel Strom verbrauchte, eine Menge Wärme erzeugte und die Leistung für die Lautsprecher bereitstellte. Die Bedienung des Geräts stammte noch aus den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, wie bei vermutlich all diesen Firmen aus diesem Zeitalter. Wirklich großartig war das große Rad auf der Vorderseite zur Einstellung der Lautstärke. Im Allgemeinen Potentiometer oder liebevoll nur Poti genannt. Diese Art der Bedienung ist seit vielen Jahren unverändert und vermutlich jedem bekannt. Das Drehen des Rades an meinem Receiver war immer sehr befriedigend, fest und mit leichtem Widerstand aber dennoch weich und gut dosierbar. Außerdem übermittelte das Rad beim Drehen regelmäßige winzige Vibrationen und suggerierte somit eine Art Skala. Jede Vibration war eine Veränderung der Lautstärke um eine Stufe. Jedoch, derartige Skalen funktionieren nicht überall gleich gut.

Es scheint eine Kunst zu sein, eine Skala an einem zu bedienenden Element korrekt einzustellen. Mein AV Receiver erledigte diese Funktion mit Bravour. Allerdings nur an dem Rad. Die Fernbedienung wiederum hatte ein anderes Verständnis davon, in welchen Schritten sich die Lautstärke verändern sollte. Sie erhöhte und verringerte per Tastendruck deutlich schneller bzw. stärker. Oder anders gesagt, um das gleiche Maß an Veränderung zu erreichen, hätte ich recht lange am Rad drehen müssen. Zudem hatte die Fernbedienung den mir völlig unverständlichen Bonus, bei längerem Druck zu beschleunigen. Ist ja auch total sinnvoll, beim Versuch etwas lauter zu machen nicht gleichmäßig bis Stufe 12 zu gehen, sondern schlagartig auf Stufe 87 zu beschleunigen. Inklusive Hör-, Herz- und Wohnungsschäden.

Die Zeiten haben sich geändert und jetzt steht eine Sonos Anlage im Wohnzimmer. Die Bedienung erfolgt quasi ausschließlich per App, vom Smartphone oder Macbook aus. Und auch hier kommt mir die unterschiedliche Interpretation der Skalen eigenartig vor. Um die Lautstärke am Gerät zu verändern, müssen die Touch-„Knöpfe“ recht lange gedrückt werden. Auch hier ist der Spagat schwierig, nicht zu lange auf dem Knopf zu verharren, sondern lieber in vielen Einzelschritten „fein zu tunen“. Noch etwas eigenartiger ist die Bedienung am Mac. Meist erhält man als Anwender gar keine Skalenbeschriftung mehr, sondern ist gezwungen sich an der Postion eines Punktes auf einer schmalen Grafiklinie zu orientieren1. Dieser Punkt muss dann pixelgenau auf der Linie verschoben werden. In meinem Fall jeweils nur um wenige Pixel.

Die Applikation eines Drittherstellers zeigt mir die Lautstärke in Prozent an. Und meist steht sie in unserer Wohnung auf ca. 7 Prozent. Das ist völlig ausreichend. Morgens, oder wenn ich nur leise Hintergrundberieselung wünsche, stelle ich sie auf 2 oder 3 Prozent und selbst dann kann es in Einzelfällen noch zu laut sein. Aber weiter runter geht einfach nicht. Danach herrscht nur noch Stille. Ich bewege mich also stets in vorsichtigen Bereichen von 2 bis 7 Prozent. Und frage mich, was ich mit den restlichen 93 Prozent anstellen soll. Wer würde die Anlage derart hoch aufdrehen? Ist das wirklich noch sinnvoll? Und wäre es nicht besser, meine präferierte Lautstärke in kleineren Skalenschritten im Bereich von vielleicht 0 bis 30 Prozent steuern zu lassen? So dass 30 Prozent guter Mietswohnung-Beschallung entspricht?

Unser Toaster hat ebenfalls ein Poti an der Vorderseite, um den gewünschten Bräunungsgrad des Brotes einstellen zu können. Die Skala unter der Überschrift „Toast Colour“ zeigt Stufen von 0 bis 6 an. Vor einiger Zeit las ich in einem Artikel, diese Stufen seien nicht willkürlich gewählt, sondern sollen tatsächlich die Minuten widerspiegeln, in denen das Brot bis zum gewünschten Ergebnis getoastet wird. Ich habe das nie geprüft.

Was mich zur Weißglut toastet, ist die Tatsache, dass das Rad quasi keinerlei Widerstand hat und sich bei der leisesten Berührung in irgendeine Richtung dreht. Und sich zusätzlich das perfekte Bräunungsergebnis ausschließlich im (unglaublich schwer zu treffenden) Skalenbereich zwischen 3,7 und 3,9 befindet. Bei 3,6 ist der Toast noch weiß, bei 4 ist er verbrannt. Es ist daher ungemein wichtig, vor jeder Toastherrstellung penibel darauf zu achten, das Rad nicht versehentlich bewegt zu haben und die präzise geschätzte Einstellung einem nicht das Frühstück versaut.

Ja, es ist schon eine Kunst, Skalen korrekt und benutzerfreundlich einzustellen, ganz gleich ob in der physischen Welt oder in der digitalen.

  1. Interessante Randnotiz: Das Wort „orientieren“ bezieht sich tatsächlich auf den Orient, denn im Mittelalter wurden christlich geprägte Landkarten noch nach Osten ausgerichtet, wo die Sonne aufging und sich Jerusalem befand, also im Orient. Daher orientierte man sich nach dem Orient ↩︎

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