Der norwegische Designer Torger Jansen hat den Linien- und Netzplan Oslos analysiert und überarbeitet. Seine Herangehensweise, den eigentlichen Design-Prozess und die Ergebnisse hielt er in einem sehr interessanten Video fest. Er beschreibt darin auch für Nicht-Designer nachvollziehbar, mit welchen Ideen er spielte und welche er aus bestimmten Gründen wieder verwerfen musste. Außerdem betont er – sehr zu meiner Freude – dass seine Ideen bislang nicht getestet wurden. Erfreulich ist es deshalb, weil er sich dadurch von vielen anderen „Künstlern“ und UI-Designern unterscheidet, die zwar schöne Visuals, interessante Konzepte und tolle Interface-Konzepte entwickeln und auf Plattformen wie Dribble und Behance damit flexen (sorry, angeben meinte ich natürlich). Die aber im Vergleich zu einem echten UX-Konzept darauf verzichten, herauszufinden, welche Anforderungen zugrunde liegen, welchen Mehrwert das Design bietet und ob es überhaupt für echte Menschen gut funktioniert.
Jansen, der sich neben seinen vielfältigen kreativen Interessen selbst als UI/UX Designer bezeichnet, hatte den Linien- und Netzplan Oslos bereits vor einigen Jahren angepasst. Fünf Jahre später wiederholte er den Prozess. Wieder in nicht offiziellem Auftrag. Sein Ansatz war, Züge, Tram und Metro Linien in einem übersichtlichen, gut lesbaren Plan zu kombinieren und die Barrierefreiheit noch besser zu unterstützen. Das Ergebnis kann man – bis auf wenige kleine Details – als gelungen bezeichnen.
Hintergrund des Redesigns
Kaum im Video zu sehen sind die ursprünglichen, offiziellen Pläne der Stadt Oslo. Doch gerade hierin liegt ja der Reiz. Was genau wurde denn verbessert? Also machte ich mich auf die Suche nach den Originalplänen und fand sie auch bald bei Ruter.no, der Seite der öffentlichen Verkehrsbehörde Oslos. Und siehe da: auch die offiziellen Pläne sind bereits durchdacht. Leicht scan- und lesbar, übersichtlich, mit starken Kontrasten und gut ausgewählten Schriftarten. Auch wenn es wie ein Klischee klingt: das klare skandinavische Design ist unverkennbar. Wie übrigens nicht nur in den Netzplänen, sondern auf der gesamten Ruter-Seite inklusive des Reiseplaners.
Weshalb nahm sich Jansen dann ausgerechnet diese Pläne vor? Es war die Herausforderung, Zug-, Tram- und Metro-Linien in genau einem Plan unterzubringen. Und zwar so, dass eine Reiseplanung damit wirklich möglich wurde. Verlässt man sich auf die offiziellen Ausgaben, ist man gezwungen mit drei unterschiedlichen Plänen zu hantieren (Siehe hier: Zug, Tram, Metro und der Vollständigkeit halber auch Bus). Nicht gerade einfach, die beste Verbindung von A nach B zu finden, wenn man gar nicht weiß, wo man auf welches Verkehrsmittel umsteigen kann oder muss.
Gut gestaltete Netzpläne und Barrierefreiheit
Nun kann man sich im Jahr 2023 natürlich die Frage stellen, wer sich überhaupt noch für derartige Pläne interessiert. Wer verreisen will, eine Verbindung sucht, der soll doch bitte einfach eine App benutzen. Oder auf entsprechenden Webseiten ganz einfach Start und Ziel eingeben, um ohne langes Suchen in einem Plan den kompletten Reiseverlauf angezeigt zu bekommen, mit allen Umsteigemöglichkeiten, aktuellen Verspätungen, Sperrung und Unwägbarkeiten. Doch ganz so einfach ist es nicht. Erst im April dieses Jahres erschien eine Studie nach der etwa 3,4 Millionen Menschen in Deutschland noch nie im Internet waren. Die also auch keine Apps oder andere Services nutzen und daher auf „gedruckte Alternativen“ angewiesen sind. In Norwegen könnte es eine relevante, ähnlich hohe Zahl sein.
Laut Studie handelt es sich bei den genannten Offlinern vornehmlich um Senioren im Alter von 65 bis 74 Jahren. Gerade älteren Mitmenschen fällt es zunehmend schwer, mit der Digitalisierung Schritt zu halten. Ständig neue Apps, neue Möglichkeiten, neue Dinge die gelernt werden müssen. Heutige Webseiten und Apps werden komplexer statt einfacher. Nicht wenige Hersteller halten das Verlangen nach weiteren Features für einen Wunsch der Kunden, der gerne erfüllt wird, um die Einnahmen konstant zu halten. Aber ist das wirklich wahr? Ehrlich, auch ich verstehe beispielsweise Instagram mittlerweile kaum mehr und fühle mich jenseits der ursprünglichen Grundfunktionen meist überfordert. Das Übermaß an Komplexität ist allerdings nicht nur ein Thema der älteren Generationen, auch Menschen mit kognitiven, visuellen, auditiven oder motorischen Einschränkungen leiden darunter. Und letztlich jeder Mensch, dem das Ganze einfach zu viel wird. Komplexität ist ein integraler Bestandteil im Bereich Barrierefreiheit. In inklusivem Design und der Arbeit von UX Designern, die darauf abzielt, keinen Menschen zurück zu lassen, sondern allen Anwendenden die bestmögliche Nutzbarkeit zu bieten.
Ich selbst stand schon in Städten wie London oder Barcelona vor derartigen Plänen, suchte den „Sie befinden sich hier“-Punkt und versuchte heraus zu finden, welche U-Bahn mich an mein Ziel bringen könnte. Und zwar aus unterschiedlichen Gründen: Überangebot an Mobilitäts-Apps in den Stores mit nicht eingehaltenen Versprechungen und schlechter Bedienung. Kaum oder nur schwer nutzbare offizielle Webseiten mit Linien- und Tarif-Dschungel. Geringe oder nicht vorhandene Netzabdeckung. Oder gar einfach die Erkenntnis, dass die Zeit für die Suche in einem gut gestalteten Plan kürzer ist, als der Aufruf und die Eingabe in einer App.
Der Netzplan von Oslo und Aachen im Vergleich
Doch kommen wir zurück zu den Netzfahrplänen. Sie haben noch heute eine Daseinsberechtigung und müssen genau deshalb so einfach, übersichtlich und barrierefrei wie möglich gestaltet sein, damit jeder Mensch, egal welcher Herkunft und welchem Hintergrund, sie verstehen und nachvollziehen kann. Ist das denn überall so? Beispielsweise in meiner Heimatstadt Aachen? Ich machte den Versuch, suchte auf der Seite des regionalen Verkehrsunternehmen ASEAG und wurde bald fündig. Aachen hat, wie schon einmal erwähnt, leider nur ein Busnetz und die Pläne dazu finden sich hier. Interessanterweise weist die ASEAG schon vor dem Download darauf hin, dass alle Netzpläne nicht barrierefrei sind (Wirklich alle, was schon fast peinlich ist, wenn man nicht gleichzeitig auch barrierefreie Varianten anbietet). Doch immerhin wirbt die Überschrift damit, das Liniennetz Aachens sei in den Plänen übersichtlich dargestellt. So sieht der schematische Netzplan von Aachens Innenstadt aus:
Dies ist im Vergleich der Netzplan der Buslinien Oslos:
Es kann davon ausgegangen werden, dass Oslo nicht nur deutlich größer als Aachen ist, sondern auch eine Menge mehr Buslinien als Aachen hat. Was vermutlich der Grund sein dürfte, weshalb im Osloer Plan viele Farben für mehrere unterschiedliche Linien benutzt werden mussten. Ein deutlicher Schwachpunkt, auch im Sinne der Barrierefreiheit (Stichwort Farbenblindheit). Dennoch ist schon auf den ersten Blick der Osloer Netzplan aufgeräumter, entzerrter, besser erfassbar, die Linien und Stationen besser verfolgbar. Allein die Legende an der Seite des Aachener Plans bereitet mir schweissnasse Hände. Dagegen stellt sich der Plan Oslos beinahe als selbsterklärend dar. Interessant ist auch, dass beide Pläne zwar schematisch sein sollen, sich jedoch sehr an den geografischen Gegebenheiten orientieren. Nehmen wir als Gegenbeispiel den offiziellen Metroplan Oslos:
Im Netzplan der Osloer Metro scheint Geografie, Entfernungen etc. keine Rolle zu spielen. Der Plan ist ein Musterbeispiel an Übersichtlichkeit, was natürlich auch daran liegen kann, dass es weniger Metrolinien als Buslinien gibt. Doch warum war die schematische Darstellung hier möglich, bei den Busen aber nicht? Oder anders gefragt, wäre diese Art der Darstellung bei Buslinien eventuell gar nicht hilfreich?
Der Vollständigkeit halber sei hier auch der Netzplan des AVV, dem Aachener Verkehrsverbund erwähnt, der, wie in diesem Blogartikel von 2016 beschrieben, ein aufwändiges Redesign erhielt und sich heute so darstellt:
(Besser, aber aus meiner Sicht immer noch unübersichtlich und schwer scan- und lesbar. Warum übrigens jeder seinen eigenen Netzplan erstellen muss – ASEAG als Busbetreiber und AVV als Verkehrsverbund – wird sich mir vermutlich auch nie erschließen)
Es scheint kein Zufall zu sein, dass Torger Jansen sich „nur“ die Pläne der Metro-, Tram- und Zuglinien vorgenommen hat und das offenbar viel zu komplexe Busliniennetz aussen vor ließ. Auf diese Weise war es ihm möglich, aus den drei sehr schematischen Ansichten eine Gesamtvariante zu erstellen:
Wer gestaltet eigentlich Netzpläne und warum mache ich es nicht?
Sehe ich mir den Netzplan von Aachens Buslinien an, juckt es mich in den Fingern, es Torger Jansen gleich zu tun. Wie gerne würde ich versuchen, aus diesem unübersichtlichen Kuddelmuddel einen gut lesbaren, barrierefreien Plan zu erstellen. Wie gerne würde ich entsprechenden User Research betreiben, mit Menschen sprechen, testen und so lange daran feilen, bis man sicher sein kann, alle „Anwendenden“ mit einem neuen Netzplan gut unterstützt und geholfen zu haben. Ob es mir gelingen würde? Keine Ahnung. Vielleicht könnte das eine spannende Aufgabe für ein kleines Team sein. Eine richtige Case Study…
Und so stellt sich auch die letzte Frage. Wer erstellt eigentlich diese offiziellen Pläne. Designer? Ingenieure? Wurden echte Menschen dazu befragt? Wurden die Pläne mit ihnen getestet? Wurden Studien und Analysen dazu angestellt, um herauszufinden, ob ein ganz normaler Reisender mit den Plänen klar kommt? Hat Oslo mit seinen gut gestalteten Plänen versucht, einem Reisenden die Aufgabe zu stellen, nur mit Hilfe der unterschiedlichen Netzpläne mit viermaligem Verkehrsmittelwechsel von einem Ort zum anderen zu kommen? Und wie ist das in Deutschland? In wessen Auftrag und von wem werden die Pläne erstellt? Wer hierzu nähere Informationen hat, ist gerne eingeladen, sich direkt bei mir zu melden oder einfach einen Kommentar zu hinterlassen. Ich wäre sehr verbunden.
Schreibe einen Kommentar