Gestern war ich einer der Millionen Menschen, der das Interview mit Natascha Kampusch gesehen hat. Mit einer Mischung aus Grusel und Faszination saß ich vor dem Fernseher und beobachtete eine hübsche junge Frau, die versuchte, über etwas schier Unfassbares zu berichten, ohne zu viel preis zu geben. Manche ihrer Sätze klangen beinahe auswendig gelernt, während sie an anderer Stelle einfach den Faden verlor. Sie schaffte es bemerkenswert, ihre Fassung zu wahren und zeigte sich äußerst stark und überlegen. Was davon Fassade war und was nicht, sei dahin gestellt.
Natürlich interessierte sich die Welt für diese Geschichte. Ein kleines Mädchen, das entführt wird und acht Jahre lang in einem Verlies in einem normalen Wohnhaus eingesperrt ist. Ein Leben in Einsamkeit und gewaltsam abgeschottet von der Außenwelt. Nach acht Jahren schließlich, mittlerweile eine junge Frau, gelingt ihr die Flucht und sie kehrt ins Leben zurück, während ihr Entführer sich das Leben nimmt.
Das ist der Stoff, aus dem gute Thriller gemacht sind.
Und wollen wir wetten, wie viele Drehbuchautoren bereits an Exposés und Erstentwürfen sitzen, wie viele Produzenten bereits mit dem Medienberater von Kampusch versuchen in Verhandlungen zu treten? Meine Güte, selbst mir würde ein fantastisches Skript einfallen, die wichtigsten und spannendsten Szenen habe ich bereits vor Augen. Die Geschichte ist ein Knüller. Sogar der Name des Täters hat so ein Psychopaten -Touch: Wolfang Pikropil. Brrr.
Das klingt pietätslos? Mag sein, aber hatte man nach dem elften September 2001 nicht auch gesagt, so etwas darf nie in einem Kino gezeigt werden? Diese Tragödie darf niemals als Schauwert vermarktet werden? Am besten man verbietet gleich alle Action Filme?
Natascha Kampuschs Martyrium ist bestimmt keine Tragödie in dem Ausmaß eines World Trade Centers, aber es ist ihre Tragödie. Persönlich. Schrecklich. Gruslig. Faszinierend.
Viele Fragen hat Natascha beantwortet, manche mehr, manche weniger. Einigen wich sie aus und verlor sich in Details (ihre Mutter hat nun einen grünen Teppich in ihrem Zimmer und orange Tapeten). Andere beantwortete sie recht überraschend (es ärgert sie, dass alle Welt ihren Raum, das Verlies, in der Zeitung sehen konnte – sie würde auch nicht in die Wohnzimmer anderer Menschen schauen wollen). Viele Fragen wurden indes nicht beantwortet und liefern noch genügend Gesprächsstoff für die nächsten Wochen und natürlich auch für ein Buch oder einen Film.
Die wichtigste Frage von allen beispielsweise wurde vermutlich noch gar nicht gestellt: Warum? Warum kidnappt ein Mann ein zehnjähriges Mädchen und behält sie acht Jahre bei sich im Keller, ohne sie zu vergewaltigen oder zu missbrauchen? Gibt ihr zu essen und geht sogar mit ihr raus? War sie ein Spielzeug? Eine Art Haustier? Warum das ganze? Gut, diese Frage wird für einen gesunden, vernünftig denkenden Menschen niemals beantwortet werden können.
Aus diesem Grund seien wir lieber froh, dass sie frei ist. Hoffen wir, dass sie Eltern von vermissten Kindern (keinen falschen) Mut machen kann. Hoffen wir, dass sie tatsächlich so stark ist, wie sie sich gezeigt hat und nach acht Jahren erzwungener Pause endlich anfangen kann zu leben.
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