Am morgigen Freitag wird die 13-jährige Mirjam in meinem Nachbarort Auggen beerdigt. Das Mädchen wurde letzte Woche tot in einem Dornengebüsch gefunden. Offenbar war es auf dem Weg zur Schule überfallen, getötet und danach dort versteckt worden. Noch gibt es weder ein Motiv noch hat man einen Täter gefunden, obwohl die Polizei hunderte von Zeugen befragte und ebenso vielen Hinweisen nachging. Aber es scheint noch immer eine heiße Spur zu fehlen. Nun denkt man darüber nach, einen DNA Massentest zu veranstalten, an dem ich mit Sicherheit auch teilnehmen müsste (alleine schon, weil ich vermutlich in das Täterprofil passe: männlich, jung, mittelständisch, ledig und ich spiele Killerspiele). Und gerade jetzt, in einer Zeit, in der sich der deutsche Staat wünscht, seine Bürger mehr und mehr überwachen zu können, frage ich mich, was geschähe, wenn ich mich diesem DNA Test verweigerte.
Versteht mich nicht falsch. Auch ich möchte, dass dieser Verbrecher so schnell wie möglich gefasst und seiner Strafe zugeführt wird. Auch habe ich im Grunde nichts dagegen, wenn die Polizei alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzt, um ihn zu schnappen. Doch nehmen wir einmal an, ich möchte nicht, dass der deutsche Staat in den Besitz meiner DNA Daten kommt. Genauso wenig wie ich möchte, dass er meinen PC regelmäßig durchsucht, dabei zusieht, wo ich surfe, meine Mails liest, meine Telefonate abhört, Einblick in meine Konten bekommt oder Wanzen in meiner Wohnung versteckt. Nehmen wir an, ich bin paranoid genug zu glauben, dass der Staat all meine Daten und alles, was mich als Bürger Roger Graf auszeichnet zusammen trägt und mit der DNA und den biometrischen Daten speichert. In der Hoffnung, jetzt oder zukünftig mehr Kontrolle über mich zu haben. Will ich das?
Ich habe ein Alibi für den Tatzeitpunkt. Ich war arbeiten und mehrere hundert Menschen könnten das vermutlich bezeugen. Könnte ich mich nun anhand meines Alibis einem DNA Test entziehen? Ich habe keine Ahnung, wie die rechtliche Seite hier aussieht. Aber stünden vielleicht wenige Stunden später die Kripobeamten erneut vor meiner Tür, in der Hand einen Gerichtsbeschluss, der ihnen erlaubt, mir ein Wattestäbchen in den Mund zu stecken? Und was wäre, wenn ich gar kein Alibi hätte und den Test dennoch verweigern würde?
Kurz gesagt: Machte ich mich automatisch verdächtig, wenn ich mich weigerte, bei der Aufklärung dieses Verbrechens hilfreich zu sein?
Und machte ich mich verdächtig, wenn ich mich weigern würde, dem deutschen Staat und dem lieben Herrn Schäuble auch nur etwas mehr als meine Anschrift zu geben? Bin ich dann automatisch ein Verbrecher? Ein Terrorist gar?
Um ehrlich zu sein, ich glaube dass solche Verbrechen auch mit einer kompletten DNA Datenbank geschehen können. Wenn ein Täter in seinem Wahn meint, er müsse ein unschuldiges Kind erdrosseln, denkt er garantiert nicht über möglicherweise hinterlassene Spuren nach. Auch halte ich eine deutsche DNA Datenbank gerade hier im Dreiländereck, also im Grenzgebiet, für einigermaßen wirkungslos. Lückenlose Kameraüberwachung ist Fehlanzeige. Biometrische Daten im Ausweis wären hier ebenfalls Makulatur.
Sei’s drum. Dieses Verbrechen muss aufgeklärt werden. Von mir aus soll die Kripo meine DNA auch bekommen. Aber woher weiß ich, was mit diesen Daten später geschieht? Werden sie gelöscht? Wer gibt mir hierfür Garantien? Und vor wem muss ich mich in Zukunft mehr fürchten? Vor Verbrechern, Terroristen oder dem eigenen Staat, der mehr über mich weiß als meine eigene Mutter? Ein ungutes Gefühl.
Ja, ich weiß: „Wer nichts zu verbergen hat, braucht sich auch vor nichts zu fürchten“, höre ich schon allerorten. Erzählt das mal jemandem, der unschuldig unter einem Überwachungsstaat litt. Haben denn gerade wir Deutschen noch immer nichts gelernt?
Daten sammeln und überwachen. Schön und gut. Besonders wenn es tatsächlich Verdachtsmomente gibt und es um Präventivmaßnahmen gegen Terrorismus geht. Doch wer entscheidet, wann Verdacht besteht? Und, sehr geehrter Herr Schäuble, ich fürchte mich weitaus mehr vor Wahnsinnigen, die aus irgendeinem Grund 13-jährige Mädchen töten, als vor islamistischen Terroristen (oder heißt es islamisch?). Hätte ich eine Tochter, würde ich mich vor jedem Zebrastreifen an einer viel befahrenen Straße, vor jedem abseits gelegenen Fahrradweg, vor jedem Discobesuch und vor jedem Kerl jeglichen Alters fürchten. Also vor jeder potentiellen Gefahr, der ein Mädchen heute mehr oder weniger ausgesetzt sein kann. Aber dass ein Terrorist die Auggener Bushaltestelle in die Luft sprengt und mehrere Unschuldige mit in den Tod reißt, halte ich dagegen für eher unwahrscheinlich. Ganz egal, wie gut die Überwachung bisher war. Anders herum gefragt, Herr Schäuble: Wie gedenken Sie in Zukunft kleine Mädchen vor Verbrechern zu schützen?
Zugegeben, dieser letzte Abschnitt klingt vielleicht etwas übertrieben. Wir leben in einer bösen Welt, oder zumindest wird uns gesagt, wie böse die Welt ist. Aber keine noch so lückenlose Kontrolle kann Böses oder Schlimmes verhindern. Und ich weigere mich einfach, ab sofort in Angst oder mit schlechtem Gewissen zu leben.
Natürlich begibt man sich mit einem Text wie diesem in eine Grauzone. Man merkt es vielleicht auch an meiner Zerrissenheit. Man könnte mir zu jedem Aspekt dieses Artikels Fragen und Gegenargumente an den Kopf werfen. Was aber nichts brächte, da ich das schon selbst tue. Die Grenzen verschwimmen bei dem was nötig, was möglich und was tatsächlich zu vertreten ist. Und besonders wenn es um die Sicherheit unserer Kinder geht, sind rein objektive Argumente schnell passé. Wie weit kann, darf und muss ein Staat gehen, um Verbrechen zu verhindern und aufzuklären?
Meine Gedanken sind bei jedem Trauernden, bei allen, die Angst haben, bei allen Kindern, die immer wieder Gefahren ausgesetzt sind. Mein Beileid den Verwandten und Freunden der kleinen Mirjam, die so sinnlos aus dem Leben scheiden musste.
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