Zwölf Uhr Mittags. Ich erwache nach einer Woche Nachtschicht und quäle mich aus dem Bett. Die Kaffeemaschine habe ich noch nicht erreicht, da höre ich mein Handy klingeln. Es liegt im Wohnzimmer. Auf dem Display steht: „Anonymer Anrufer.“ Noch schlaftrunken drücke ich auf „Annehmen“ und krächze ein „Hallo?“. „Herr Graf?“ fragt mich eine männliche Stimme. „Öhm, ja?“ bestätige ich. „Guten Tag Herr Herr Graf“, spricht die Stimme weiter, „bitte erschrecken Sie nicht. Hier spricht die Kriminalpolizei.“
Ich soll nicht erschrecken. Ich erschrecke dennoch. Ihr kennt das aus entsprechenden Filmen. In dem Bruchteil einer Sekunde schießen mir per kleinen Einblendungen und entsprechendem Soundeffekt (Wrousch!!!) alle Vergehen durch den Kopf, die ich in den letzten zwei Jahrzehnten begangen haben könnte. Von „noch schnell bei hellrot über die Ampel“ bis hin zu „Milch direkt aus der Tüte getrunken“. Ich bin perplex. Und erschrocken.
„Kriminalpolizei?“ stammle ich. „Genau. Nagel ist mein Name. Wir überprüfen gerade alle Handys die sich in der Nacht des 16.August rund um den Tatort eingeloggt haben.“ Ich ahne natürlich, wovon er spricht. Dennoch frage ich vorsichtshalber nach, schließlich lebe ich in der Großstadt, da gibbet ja immer irgendwo nen Tatort (Schimanski macht aber nimmer, oder?). „Tatort?“ frage ich also. „Ja, sie wissen schon. Der Mord in der Mülheimer Straße. Das ist bei Ihnen gerade um die Ecke, wenn ich das richtig sehe. Ihr Handy hat sich um 1.15 genau in dieser Funkzelle eingeloggt. Nun möchte ich Sie fragen, wo sie zum Tatzeitpunkt waren und ob Sie mir Informationen zum Tathergang geben können. Haben Sie irgendwas gesehen?“
„Ähm“, überlege ich. „Nein, ich hatte in dieser Nacht Nachtschicht.“ Das weiß ich deshalb noch so genau, weil ich mich daran erinnere, wie ich die Blaulichter gesehen und die Sirenen gehört hatte und erst kurz darauf im Radio erfuhr, was geschehen war. Solche Nächte vergisst man nicht so schnell. „Ah ja“, sagt der Kriminalbeamte wissend, „sie arbeiten bei, Moment, SBB Cargo, ist das richtig? Am Innenhafen, stimmt’s?“ „Öhm, genau“, gebe ich zu und überlege, wie sie an diese Daten herangekommen sind. Okay, mein Handy hat sich in der Funkzelle eingeloggt. Über meinen Anbieter kam man an meinen Namen und meine Adresse. Aber durch wen erfuhr die Polizei, wo ich arbeite? Einwohnermeldeamt?
„Und sie hatten Nachtschicht? Wann genau hat die denn begonnen?“ „Um 21 Uhr. Ich war dort am Innenhafen bis um 6 Uhr morgens“, ergänze ich. „Nun, das liegt natürlich alles ganz eng beieinander, der Tatort, ihr Wohnort, ihr Arbeitsplatz. Das wird dann wohl alles in einer Funkzelle sein“, vermutet der Beamte. Und es klingt so, als fände er das verdächtig.
„Vermutlich“, pflichte ich ihm bei. „Sie können also keine weiteren Angaben machen?“ möchte er abschießend wissen. „Nein, tut mir leid. Ich habe nur die Blaulichter mitbekommen und alles weitere im Radio erfahren.“ Ich klinge wie jemand, der etwas zu verbergen hat und fühle mich schuldig und angeklagt. „Gut“, sagt die Polizei, “ dann danke ich Ihnen fürs Erste. Ihre Personalien habe ich ja, falls doch nochmal Fragen auftauchen sollten. Ich muss jetzt noch knapp 12000 weitere solche Anrufe tätigen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ „Viel Glück“, sage ich und lege auf.
In Müllheim bin ich nie wegen eines Mordes angerufen worden. Dieses Großstadtleben ist ganz was anderes.
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